Kompetente Charaktere: Der Reiz von »Competence Porn« als Erzählmuster in Geschichten
Ich bin mir sicher, du hast in letzter Zeit ohne es zu merken einige »Kompetenz-Porno« Romane gelesen oder als Film geschaut. Denn da geht es nicht um schwitzende Leiber, die sich in Sexszenen umeinanderwinden.
Aber ich liebe die Reaktion, die ich in Deutschland bekomme, wenn ich frage: »Na, stehst du beim Lesen auch auf competence porn?« Die meisten reagieren entgeistert: Darüber, dass ich »so etwas« frage. Dass ich das von ihnen vermute. 😉
Inhaltsverzeichniss
Dabei ist »competence porn« ein sehr beliebtes Erzählmuster (trope auf Englisch). Nicht nur im Bereich Romance, sondern auch in vielen Action-, Abenteuer- und vor allem Science Fiction-Geschichten wie z. B.
- »Indiana Jones«
- »White House Down«
- »Die Hard«-Filme
- »Ocean’s Eleven«
- »Leverage«-Serie,
- James Camerons »Avatar«,
- »Apollo 13«,
- »The Martian«
- die »Vorkosigan«-Buchreihe
Die Beispielliste von Filmen ließe sich endlos fortsetzen. Deswegen ist es so wichtig, dass du als Autorin dieses Erzählmuster kennst.
Woher kommt der Name »Competence Porn«?
Angeblich hat John Rogers, einer der Drehbuchautoren der US-Serie Leverage, den Begriff ca. 2010 erfunden. Er bezieht sich auf Geschichten, in denen Charaktere durch Wissen und Fähigkeiten glänzen bei der Lösung eines Problems. (Im Gegensatz zu z. B. einem Artefakt, das den Helden in die Hände fällt und die Probleme löst.)
Wichtig sind ihre Skills: ihr Fachwissen und ihr Erfahrungsschatz. Es geht aber nicht nur darum, dass Figuren gut in etwas sind, insbesondere wenn es sich um Kämpfen handelt — andernfalls würde der Begriff auf nahezu alle Belletristik zutreffen — sondern speziell darum, dass sie ihren Verstand und harte Arbeit einsetzen. (Quelle: TV Tropes)
Ein klassisches Beispiel wäre ein Held wie Indiana Jones, der in jeder brenzligen Situation eine Lösung findet. Im Gegensatz dazu steht eine Figur wie Brennan aus der Serie Bones, die zwar im Labor äußerst kompetent ist, aber in der »echten Welt« aufgrund ihrer Schwierigkeiten mit sozialen Interaktionen nicht dem typischen »Competence Porn«-Charakter entspricht.
Treffen sich zwei Navy SEALs in einer Bar
Am auffälligsten ist dieses Erzählmuster in Romances. Nehmen wir die Reihe »Weekday Brides« von Catherine Bybee. In vielen Romanen der Reihe steckt die Heldin in lebensbedrohlichen Schwierigkeiten: durch einen Stalker, einen gewalttätigen Ex-Mann, eine Mafia-Familie..
Die Heldinnen tun zwar vieles, um sich zu schützen (Kampfsport lernen, Waffenschein, neue Identität etc.), aber irgendwann kommt der Punkt, wo es ihnen an Kopf und Kragen geht. Oder wo sie so verzweifelt über die Bedrohung sind, dass sie die tolle neue Existenz, die sich sich mühsam aufgebaut haben, aufgeben wollen.
Als Leserin leiden wir Kapitel für Kapitel mit, wenn das Buch gut geschrieben ist. Das ist aber eine Romance und keine Tragödie, also muss man als Leserin auch mal entspannen können. Wie das?
»Rein zufällig« lernt die Heldin gleich zu Beginn der Geschichte jemanden kennen: einen Ex-Navy SEAL, den Inhaber einer Personenschützer-Agentur oder einen Milliardär, der früher beim Militär gearbeitet hat …
Dann tritt der Retter auf den Plan – »rein zufällig« lernt die Heldin jemanden kennen: einen Ex-Navy SEAL, den Inhaber einer Personenschützer-Agentur oder einen Milliardär mit militärischem Hintergrund. Nach einigen Kapiteln, in denen wir mit der Heldin gelitten haben, verliebt sich dieser kompetente Mann in sie und kümmert sich fachmännisch um ihre Probleme (Personenschutz, Security, Hacking, …) und setzt dem Antagonisten Schritt für Schritt etwas entgegen.
In guten Geschichten bleibt es natürlich nicht dabei — das wäre ja langweilig für die Lesenden. Kurz vor dem Showdown reicht auch alle Kompetenz von Mr. Loveplot nicht aus, um die Heldin zu retten. Aber diese Szenen vorher, wo man einfach nur begeistert dabei zuschaut, wie jemand endlich »alles in Ordnung bringt« – die sind für Leute, die so etwas gern lesen/schauen, ein Hochgenuss!
»Ein großer Teil der Leser (…) genießt eine gut erzählte Geschichte voller Charaktere, die bestimmte Dinge gut können. Aber nicht perfekt. Sie machen nicht alles richtig. Vielleicht müssen sie es mehr als einmal versuchen, um es zu schaffen. Aber sie jammern nie, und wenn sie einen Rückschlag erleiden, stehen sie so gut es geht wieder auf, klopfen sich den Staub ab und setzen ihr Vorhaben entschlossen fort. Kompetenz ist eine anziehende Eigenschaft.«
»Ein großer Teil der Leser (…) genießt eine gut erzählte Geschichte voller Charaktere, die bestimmte Dinge gut können. Aber nicht perfekt. Sie machen nicht alles richtig. Vielleicht müssen sie es mehr als einmal versuchen, um es zu schaffen. Aber sie jammern nie, und wenn sie einen Rückschlag erleiden, stehen sie so gut es geht wieder auf, klopfen sich den Staub ab und setzen ihr Vorhaben entschlossen fort. Kompetenz ist eine anziehende Eigenschaft.«
Kompetente Nebencharaktere
Dumbledore erfüllt, teilweise, diese Rolle in den Harry-Potter-Büchern. Wenn er vor Ort ist, kann er Harry und seine Freunde aus den fürchterlichsten Situationen retten und man merkt beim Lesen, wie man sich mehr und mehr entspannt und begeistert weiterliest.
Es entsteht ein gewisser »Sog« beim Lesen durch das Wechselspiel zwischen auf der einen Seite den HeldInnen, die selbst aktiv werden, um ihre Probleme zu beseitigen (Stichwort: agency), aber fast scheitern, und auf der anderen Sete dem wohltuenden Eingriff der »kompetenten« Nebencharaktere.
Für dich als Autorin ist die Herausforderung beim Plotten und Schreiben:
- dadurch nicht die Spannung aus der Geschichte zu verlieren
- dafür zu sorgen, dass die HeldInnen ohne den Eingriff der kompetenten Sidekicks nicht (komplett) hilflos sind.
Kompetente HeldInnen
Bei »The Martian«, der Fernseserie »Leverage«, vielen Urban-Fantasy-Büchern etc. sind es aber nicht die Sidekicks sondern die HeldInnen selbst, die uns in einigen Szenen ihre Kompetenz vorführen.
Ob dein/e Held/in kompetent in ihrer Welt ist oder nicht, macht einen gewaltigen Unterschied im Schreibprozess für dich als Autorin. Das sollte eine der ersten Entscheidungen bei der Charaktererschaffung sein!
Newb vs. Fachmensch
Nehmen wir als Beispiel mal die Charaktere Harry Potter und Jack Reacher.
- Gemeinsam mit Harry entdecken wir als Leser, dass Magie existiert, und ziehen mit ihm nach Hogwarts. Wir als Lesende sind genauso informiert bzw. nicht informiert über diesen Ort. Was Harry lernt, erfahren wir, während es passiert. Quasi in Echtzeit.
- Jack Reacher ist ein ehemaliger Offizier der US-amerikanischen Militärpolizei. Er ist ein Kampfschwein und fällt in jeder Situation auf die Füße; dabei reist er nur mit einer Klappzahnbürste, einer Kreditkarte und seinem Pass ausgestattet quer durch die USA. Jede neue Herausforderung löst er »fachmännisch« (bezogen auf seine Fachgebiete u.a. Waffen, Kampfsport, Personenschutz, Informationen sammeln und bewerten). Wir Leser wissen nie, was er alles kann.
Wenn du einen Charakter wie Jack Reacher in die Welt von Harry Potter setzen würdest, wäre er wohl ein Ex-Auror mit enzyklopädischem Wissen über die magische Welt – das Gegenteil von Harry in Buch 1.
Newbs schreiben sich leichter
Viele AutorInnen tendieren zu Newbie-Charakteren, vor allem in ihren ersten Romanen. Das hat Vorteile:
- Weniger World Building im Vorfeld, da du immer nur das beschreiben und für deine Welt entscheiden musst, was tatsächlich gerade in einer Szene vorkommt.
- Ob die Heldin die Geliebte des Milliardärs wird oder durch ein Portal in einer Elfenwelt landet: Ihr Know-how ist identisch zu deinem als Autor und zu dem deiner Lesenden. Das siehst du an den Rezis, wo Leserinnen schwärmen, wie toll sie sich in die Welt einfinden konnten.
Mir ist ein Austausch zwischen einer Leserin und der Autorin Rita Mae Brown im Gedächtnis geblieben. Während einer Lesung beschwerte sich eine Leserin empört, warum Brown denn eigentlich nie »normale« Charaktere als Helden ihrer Romane verwendet. Leute, die nichts wissen und nichts können. So wie wir eben.
Rita Mae Brown war sehr verwirrt und sagte: »Weil es dann langweilig wäre? Vor allem über 180 Seiten und mehr.«
Newbs brauchen viel Erklärung
Aber es gibt auch Nachteile:
- Du verzichtest auf den beliebten competence porn-Effekt. Je nach Genre möchten wir nicht erst im Showdown sehen, dass die Heldin die Sache im Griff hat.
- Deine Geschichte wird vermutlich umständlicher und länger sein, weil deine Helden erst einmal Informationen über jede Herausforderung sammeln müssen. Die Gefahr, dass man über viele Seiten immer wieder langweilig »talking heads« liest, ist groß. (Siehe Blogpost »Talking Heads – Außer Quasseln nichts los«)
- Nebencharaktere mit dem nötigen Know-how könnten die Heldin schwach und uninteressant wirken lassen.
Einige AutorInnen lösen Punkt 3, indem sie die Heldin mit passendem Know-how ausstatten – oft zu offensichtlich, was unrealistisch wirkt. (Ganz »zufällig« kennt sich eine amerikanische Highschool-Schülerin genau mit dem aus, das sie benötigt, um einen jahrhundertealten Elfenkrieg zu beenden …) Eine übertrieben kompetente Heldin kann leicht als »Mary Sue« ((später Link zu Blogpost)) abgestempelt werden, vor allem, wenn sie kaum Schwächen hat und von allen bewundert wird.
Viele Lesende stört das aber nicht: Da sie sich so stark mit der Heldin identifizieren (beide sind als Newbs zusammen in diese Welt gekommen), erleben sie diese plötzliche Cleverness und Macht wohltuend.
Viele HeldInnen in Science-Fiction-Serien (zumindest in der Military SF, die ich gern lese) sind als erfahrenen Charaktere angelegt. Dadurch können die Plots sehr viel vielschichtiger sein, da man nicht erst einen Newb jedes Mal mit Informationen vollstopfen muss, damit sie/er Entscheidungen als Starfleet-Kommandantin treffen kann.
Fazit: Den richtigen Fokus in deiner Geschichte setzen
Überleg dir:
- Soll der Fokus meiner Geschichte auf Competence Porn liegen? (z. B. Indiana Jones, viele SF-Filme und -Bücher, viele Romances)
- Wenn ja: Welchen Hauptcharakter benötige ich dafür? Und wie baue ich sie/ihn auf, ohne die Leser mit Info-Dumps zu langweilen?
- Wenn nein: Könnte ich kleine Competence Porn-Szenen in meinen Roman einbauen, die die Handlung bereichern?
Kleine Kompetenz-Szenen zum Lachen oder für die Charakterentwicklung
Solche Szenen kannst du auch humorvoll schreiben. Eine meiner Lieblingsszenen der Serie »Scandal« ist, wo Olivia Huck fragt, was er benötigt, um ihr aktuelles Problem zu lösen. Er überlegt nur eine Sekunde und rattert dann eine lange Liste herunter (ich erfinde jetzt die Details): »Ich benötige zehn 100-Liter-Müllsäcke, eine Knochensäge, fünf Kilo Eis, drei Liter Bleiche und drei doppelte Espresso«.
Olivia guckt irritiert. »Ich will den Körper nur bewegen, nicht entsorgen.«
»Ach so, upps. Dann brauche ich nur Eis und ein paar Bettlaken.«
Das ist Kompetenz in Action! Du erzeugst einen Lacher, gleichzeitig baust du den Charakter von Huck aus: Er weiß auch unter Druck blitzschnell, was zu tun ist; er zuckt nicht mit der Wimper, einen Körper zu zerlegen etc. Das ganze dauert ein paar Sekunden, aber wird deinen Lesenden im Gedächtnis bleiben.
Zum Weiterlesen:
https://www.bosshunting.com.au/entertainment/movies/competence-porn/
https://arstechnica.com/gaming/2016/02/the-martian-sherlock-holmes-and-why-we-love-competence-porn/
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