Schreib konkret – das Pyramiden-Schreibtool
Momentan wandert wieder das Stichwort »Pyramide der Abstraktion« bzw. meist die englische Variante »Pyramide of Abstraction« durch die Autorengruppen im Internet.
Was klingt wie ein geheimer Illuminati-Orden 😉 ist ein wirklich guter Schreibtipp für Autorinnen und Autoren, die Kurzgeschichten und Romane schreiben. Aber auch für AutorInnen von Sachbüchern und Blogposts!
Erfunden hat es, laut Internet-Recherche, S. I. Hayakawa in seinem Buch »Language in Action«. Wirklich bekannt geworden ist es aber durch die Vorträge von Autor Brandon Sanderson.
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Die Pyramide verbessert deinen Schreibstil
Kurz gefasst ist die »Pyramide of Abstraction« eine Skala, an der du deinen Schreibstil messen kannst: Von einfachen Ausdrücken, die jeder kennt, zu abstrakten Begriffen.
Das verstehen viele Menschen dann leider falsch: Es geht nicht darum, möglichst abstrakt zu schreiben, um damit »literarisch wertvoll« zu klingen. Die Spitze der Pyramide ist kein Ziel!
Sanderson vergleich es mit der Ernährungspyramide: Was an der Spitze steht, sollte man mit Bedacht und in geringen Maßen konsumieren.
Denn je abstrakter der Begriff, umso diffuser der Effekt, den du mit dem Wort im Gehirn deines Lesers bzw. deiner Leserin erzeugst.
Ein beliebtes Beispiel ist »Liebe«: Darunter verstehen Menschen ganz unterschiedliche Gefühle und innere Bilder, teilweise wechseln diese sogar innerhalb einer Person je nach ihrer Laune, ihren aktuellen Erfahrungen.
Wohingegen »Hund« für die meisten Menschen ähnlich besetzt ist und »Corgi« noch präziser.
Die Sprache im oberen Drittel der Pyramide
An der Spitze der Pyramide stehen also abstrakte Begriffe:
- immateriell (unkörperlich)
- unspezifisch
- verallgemeinert
Häufig werden diese abstrakten Begriffe in Büchern für Ideen, Gefühle und Konzepte verwendet: Liebe, Ehre, Freiheit …
In Romanen taucht es häufig auf, wenn der Charakter vor sich hingrübelt (»Bauchnabelbetrachtungen« nennt es einer der Lektoren von Brandon Sanderson).
Typisches »Politikersprech« bewegt sich oft nur in dem oberen Bereich der Pyramide.
Die Sprache in der Mitte der Pyramide
Geht man tiefer, etwa in die Mitte der Pyramide, von abstrakt zu konkret, werden diese abstrakten Konzepte durch Beispiele, sensorische Eindrücken, etc. für die Lesenden konkretisiert und damit fassbarer gemacht. Erst hier entsteht beim Lesen ein Bild im Kopf.
Bilder beim Lesen entstehen lassen
Ein Aspekt wird bei der Diskussion dieser Pyramide meist außer Acht gelassen, ist aber enorm wichtig.
An der Uni habe ich in den Sprachwissenschaften gelernt, dass nur bestimmte Worte innere Bilder im Kopf des Lesenden bzw. Hörenden (im Gespräch) entstehen lassen. Das ist enorm wichtig für AutorInnen und geht noch über die Pyramide der Abstraktion hinaus. Denn dieser innere Film hält die meisten LeserInnen in deinem Buch.
Also: Nur konkrete Begriffe erzeugen Bilder im Kopf deines Lesers. Z. B. drängt man als Lektorin deshalb die Schreibenden auch immer auf »schwitzende Verben«, denn »Er raste den Highway hinunter« erzeugt ein bestimmtes Bild; »Er bewegte sein Fahrzeug den Highway entlang« überlässt es deiner Tageslaune zu interpretieren, wie genau der Charakter wohl fährt. Tun, machen, können, haben … erzeugen keine Bilder, ebensowenig wie ein Nominalstil, wo du hauptsächlich Substantive in deinen Sätzen verwendest und Lesende kaum Aktionen, als Verben, zu sehen bekommen.
In dieses Feld gehören auch Verneigungen und »vermittelte« Eindrücke im Gegensatz zu unmittelbaren Eindrücken (also z. B. »Er konnte hören, dass die Alien den Gang entlangtapsten« vs. »Die Aliens tapsten den Gang entlang …«)
Das unterste Drittel der Pyramide
Hier sollte sich bei Romanen das meiste abspielen:
Pisse, Einhorn, aggressives Neongelb, abgewetztes, kaum entzifferbares Stopp-Schild, in der Hitze wabernder Asphalt, leuchtendgelbes Rapsfeld (statt »Felder«) …
Manche Autoren und Autorinnen lesen wir genau deswegen so gern: weil ihre Geschichten uns unmittelbar ins Geschehen eintauchen. Du liest nicht über eine Schlacht, du liegst mit im matschigen Schützengraben, dir ist kalt und die Geschosse pfeifen dir um die Ohren.
Sanderson bezieht die Pyramide übrigens auch auf den Inhalt: in der unteren Ebene Action und Dialoge, die den Lesenden in deiner Geschichte verankerten. Im obereren Drittel Nabelschau (der Charakter sinniert über die Welt nach) und Aussagen über die Welt deines Buches.
Warum baut man überhaupt abstrakte Begriffe ein? Warum schreibt man nicht immer so packend-konkret?
Weil es für die Lesenden auf Dauer anstrengend ist, Tausende von Details und konkreten Bildern in kurzer Zeit gedanklich zu verarbeiten.
Und weil Details die Geschichte verlangsamen, bis sich das Lesen zäh wie Rübensirup anfühlt.
Das Ideal liegt deshalb darin, dass sich dein Schreibstil variiert auf der Pyramide bewegt; also greifbare abstrakte Konzepte mit Konkretem verbindet.
Manche Szenen bieten sich an für besonders viele konkrete Eindrücke, andere würden dadurch zu langsam.
Im Sachbuch lässt sich Abstraktes gut abwechseln mit Konkretem, indem du Storytelling einbaust – ob Anekdoten oder Kundengeschichten. Dabei immer Mut zur Fiktionalisierung! »Echtes« Leben nacherzählt, ist häufig nicht spannend zu lesen, obwohl der Inhalt spannend ist.
Du musst beim Storytelling nicht zur Drama-Queen mutieren, aber überlege dir, welche Details du weglässt, welche du überspitzt, damit es für deinen Lesenden spannender wird.
Man nennt das auch »dichterische Wahrheit« 😉 Etwas, das uns AutorInnen im Privatleben verfolgt. »So ist das aber gar nicht genau passiert …« »Aber in einer Verfilmung wäre es so gewesen! :-P«
Wann prüft man diese Stilebenen der Pyramide?
Ganz wichtig: Diese Korrektur von »nicht zu abstrakt aber auch nicht immer konkret« ist etwas, das ich immer erst bei der Überarbeitung des fertigen Textes anfassen würde!
Schreib deinen ersten Entwurf möglichst konkret (siehe unten), aber brems dich nicht aus.
Es ist völlig in Ordnung, wenn dir auf Anhieb keine konkreten Details einfallen und du ins Manuskript ein paar abstrakte Begriffe notierst: Angst, Gefühl der Gelähmtheit, … und als Notiz für dich:
… Details einfallen. Notiere dir an die Stelle im Manuskript stattdessen ein paar Stichworte und abstrakte Begriffe. Wenn du eine große Schlachtszene schreibst z. B. ((Angst, Gefühl der Gelähmtheit … Unbedingt noch Sinneseindrücke aus dem Schützengraben einbauen!)) Die doppelten Klammern lassen sich dann bei der Überarbeitung schnell wiederfinden und du weißt genau, an welchen Stellen du noch Text ergänzen musst.
Wie kann ich von Anfang an konkreter schreiben?
Dass Lesende konkrete Schilderungen lieben, ist eine gute Nachricht: Denn das passt genau zu einem »Shitty First Draft« (bzw. flott geschriebenen ersten Entwurf).
Schreib den ersten Entwurf ohne stilistische Selbstzensur so, wie du es jemandem erzählen würdest. Dabei benutzt man (meist) automatisch alltägliche Ausdrücke selbst für komplexe Zusammenhänge, weil die wenigsten von uns »wie gedruckt« sprechen.
Es ist viel leichter, Teile eines solchen ersten Entwurfs dann später umzuschreiben und sprachlich auf ein höheres Niveau zu heben und (wo nötig) abstrakte Konzepte einzubauen, als einem komplett abstrakten ersten Entwurf verzweifelt »Leben« einhauchen zu wollen. (Ich weiß, wovon ich rede: Ich habe schon mehrere Bücher von Juristen und Ingenieuren lektoriert. 😉
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